Zuerst erschienen in der Ausgabe .public 02-2019
Jürgen Fritsche, Mitglied der Geschäftsleitung Public Sector bei msg, sprach am 3. Mai 2019 mit Dr. Markus Richter, Vizepräsident des BAMF über die digitale Transformation und Automatisierung in der öffentlichen Verwaltung, die Entwicklung des BAMF in den letzten Jahren und über Chancen, die sich aus Krisen ergeben können.
msg: Schön, dass Sie Zeit finden für das Interview, Herr Richter. Kennen Sie eigentlich diese Schriftzeichen?
Richter: Ehrlich gesagt, nein.
msg: Das ist das chinesische Wort für Krise. Der linke Teil zeigt die Gefahr. Das könnten ein sich duckender Mensch und ein Löwe sein, der sich über ihn beugt. Die rechte Seite könnte eine Tür sein, durch die man gehen kann, oder eine Brücke. Das steht für Chance.
Richter: Spannend. Das habe ich noch nie so gesehen.
msg: Das Schriftzeichen steht also für Krise und Chance. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hat 2015 auch eine Krise durchlebt. Sie war Auslöser für tief greifende Veränderungen beim BAMF, die auch von der Öffentlichkeit und von Experten wahrgenommen werden. Hat die Krise also die Leistungsfähigkeit des BAMF letzten Endes erhöht?
Richter: Aus heutiger Sicht sicherlich. Es wird viel über Disruption gesprochen, wenn es um Veränderung geht, und wir haben wirklich in einer extremen Art und Weise Disruption erlebt. Wir waren eine von vielen ganz normalen Behörden in Deutschland, die für ein Antragsverfahren zuständig waren. Und auf einmal hatten wir eine Situation, in der wir von der Öffentlichkeit für den gesamten Prozess, für alle Schnittstellen und für alle Themen rund um Migration, einschließlich Grenzmanagement, in die Pflicht genommen wurden. In dieser Situation haben wir viele Punkte identifiziert, die wir brauchen, um diesen Ansprüchen gerecht zu werden. Davon profitieren wir heute.
msg: Können Sie ganz konkret sagen, wodurch die Leistungsfähigkeit erhöht wurde?
Richter: Ein Beispiel: Wir waren gefordert, innerhalb von acht Wochen ein System aufzubauen, das es ermöglicht, biometrische Daten zwischen Bund und den 16 Bundesländern auszutauschen – also von der Idee über die konzeptionelle Abstimmung bis hin zur Implementierung für einen Pilotbetrieb. Dieses Datensystem heißt nun „Asyl Online“. Damals waren wir extrem Getriebene. Die klassischen Kommunikationswege innerhalb einer Behörde waren darauf nicht ausgerichtet, jeden Tag mussten innerhalb der IT unmittelbar zig fachlich basierte Entscheidungen getroffen werden. Das war für uns der Auslöser, zu sagen: Wir müssen die Kommunikation und die Art der Zusammenarbeit ändern. Wir müssen zum Beispiel die IT mit der Fachseite in ein Team zusammenbringen, sodass dieses Team in der Lage ist, auch fachlich fundierte Entscheidungen ad hoc zu treffen. Und wir müssen die Agilität in der Behörde erhöhen. Das heißt nichts anderes, als dass wir neue Arbeitsformen und auch Entscheidungsprozesse implementieren mussten.
msg: Das war ein starker Umbau, der nicht nur die Technik, sondern auch die Zusammenarbeitsmodelle betroffen hat. Wie haben die Mitarbeitenden des BAMF reagiert?
Richter: Es ist nicht so, dass der Prozess abgeschlossen wäre. Wir sind nach wie vor Suchende in diesem Feld, doch wir haben deutliche Fortschritte gemacht. Um den agilen Arbeitsweisen besonders Rechnung zu tragen, haben wir neue Arbeitsräume geschaffen, die leicht auf neue Projekte adaptiert werden können. Damit wollen wir die Mitarbeitenden in diesem Prozess der Veränderung mitnehmen. Das ist ja nichts, das man mit der Brechstange erzwingen kann, das funktioniert nur, wenn wir es vorleben, Beispiele implementieren und dann skalieren.
msg: Hat die Veränderung auch die Zusammenarbeitsmodelle und Prozesse mit anderen Behörden betroffen?
Richter: Absolut. Wir waren in einer Krisensituation und mussten innerhalb der Behörde auf einmal deutlich anders arbeiten, um Lösungen anbieten zu können. Das oben erwähnte Datensystem mussten wir zum Beispiel mit 16 Bundesländern und anderen Bundesbehörden zusammen erstellen. Natürlich sind wir da auch an Grenzen gestoßen. Wir haben agile Teams, die innerhalb von sechs Monaten eine Dialekterkennung kreieren sollten. Also ein System, in das eine Person hineinsprechen kann und das einem dann sagt, aus welcher Region diese Person mit welcher Wahrscheinlichkeit kommt. Um so etwas innerhalb von sechs Monaten realisieren zu können, muss der gesamte Prozess innerhalb der Behörde darauf abgestimmt sein, zum Beispiel, was Beschaffung oder was rechtliche Prüfungen anbelangt. Das heißt, wenn man einzelne Projekte agil aufstellt, muss man ab einem bestimmten Grad auch die klassische Verwaltungsorganisation entsprechend umstellen und weiterentwickeln. Auch hier sind wir nach wie vor Suchende, aber ich bin stolz auf unsere Mannschaft, die sich sehr stark mit dieser Aufgabe identifiziert und sehr lösungsorientiert ist.
msg: Wie wirken sich diese Automatisierungen auf die Fehlerquote aus? Ist sie besser oder schlechter geworden?
Richter: Man muss das so sehen: Wir stellen unseren Mitarbeitenden Assistenzsysteme zur Verfügung, aus denen sie Informationen herausziehen können. Wenn Sie also Antragsteller vor sich sitzen haben, von denen Sie nichts haben als die Geschichte, die sie Ihnen erzählen – kein Ausweisdokument, keine Belege und keine Beweise – dann ist es hilfreich, weitere Assistenten zur Unterstützung zu haben. Diese Systeme ersetzen keine Entscheidung, aber sie geben unseren Mitarbeitenden Anlass, weitere Fragen zu stellen. Die Assistenzsysteme zur Dialekterkennung und auch zur Namenstranskription – wir sind übrigens als eine der ersten Behörden weltweit in der Lage, arabische Namen einer Herkunftsregion zuzuordnen, genauso wie wir arabische Hauptdialekte den Regionen zuordnen können – bieten Erkenntnisse, die unsere Mitarbeitenden nutzen, wenn sie feststellen, dass etwas nicht zu stimmen scheint.
Wir sind übrigens auch eine der ersten Bundesverwaltungsbehörden, die produktiv mit künstlicher Intelligenz arbeitet und Robotsysteme einsetzt. Natürlich sind diese Systeme auch fehleranfällig. Aber unsere Mitarbeitenden werden zum einen gezielt darauf geschult, dass sie wissen, wie sie damit umzugehen haben. Zum anderen macht der Quervergleich mit rein händischer Bearbeitung deutlich, dass die technischen Systeme den einfachen händischen Tätigkeiten, wie zum Beispiel in der Postverarbeitung, in nichts nachstehen. Die Fehlerquote der Technik ist an dieser Stelle sogar niedriger als die händische Bearbeitung. Insofern lässt mich das eher ruhiger schlafen. Es heißt aber nicht, dass menschliche Entscheidungen ersetzt werden.
Abbildung 1: Dr. Markus Richter
Für die Qualität der künstlichen Intelligenz messen wir nicht, ob die Entscheidung an der Stelle richtig oder falsch getroffen wurde, sondern ausschließlich, ob der assistierte Prozess richtig gelaufen ist. Ob eine Entscheidung letztendlich in die richtige Richtung gelaufen ist, lässt keinen unmittelbaren Rückschluss auf das Funktionieren von Assistenzsystemen zu. Wir haben zum Beispiel aktuell eine Anhörungsunterstützung in der Pilotierung. Wenn ein Mitarbeitender eine Anhörung protokolliert, dann ist das System in der Lage, passgenaue Ergänzungsfragen vorzuschlagen. Jedoch ist es in der letzten Instanz immer der Mensch, der diese Systeme steuern muss. In der öffentlichen Verwaltung müssen ja meist Ermessensentscheidungen getroffen werden, sodass die menschliche Entscheidung auf keinen Fall komplett durch Maschinen ersetzt werden darf. Wir übertragen vielmehr dem Assistenten zeitfressende Arbeiten, damit die Menschen mehr Zeit haben, ihre Beurteilungsspielräume auszuüben. Die menschliche Ressource im öffentlichen Dienst ist viel zu kostbar, als dass sie mit lästigen Kopierarbeiten blockiert wird.
msg: Kommen wir noch einmal zurück zu dem Schriftzeichen. Hätte es also die Krise nicht gegeben, wäre das BAMF jetzt nicht so aufgestellt, wie es aufgestellt ist?
Richter: Ja, wir sind vom Gejagten zum Treiber geworden. Denn wir mussten die schmerzliche Erfahrung machen, was passiert, wenn sich auf einmal Zahlen und Rahmenbedingungen erheblich verändern. Unsere Prozesse waren auf überschaubare Fallzahlen ausgerichtet, und auf einmal hat sich die Situation komplett verändert. Wir mussten die Kommunikation deutlich verbessern, die Reiserouten stärker in den Blick nehmen, uns in das Grenzmanagement einschalten, die Kontaktstellen zu den Kommunen, auch zu Leistungsbehörden verändern, digitalisieren und so weiter. Aber damit sind wir nicht alleine. Die Gerichtskommunikation zum Beispiel war früher ein völlig analoger Vorgang, der heute technisch unterstützt ist. Das funktioniert aber nur, wenn auch die Gerichte ihrerseits die Technik weiterentwickeln. Oftmals haben wir die Steckdose zur Verfügung gestellt, und andere mussten den Stecker hineinstecken. Insofern glaube ich, dass wir uns heute gemeinsam mit den anderen Beteiligten unglaublich weiterentwickelt haben, und zwar zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik datenbasiert im Föderalismus ebenenübergreifend.
msg: Das BAMF ist heute ein Vorbild für die Verwaltung in Deutschland. Sehen Sie das auch so und werden Sie so wahrgenommen?
Richter: Wir sind sowohl in Deutschland als auch mit europäischen Partnerbehörden eng vernetzt, und in der Tat haben wir aufgrund der Situation auch viele Möglichkeiten an die Hand bekommen: politische Aufmerksamkeit, finanzielle Möglichkeiten und auch Gestaltungsspielräume. Uns war es wichtig, diesen Spielraum zu nutzen, um uns langfristig aufzustellen. Von diesen Erfahrungen profitieren wir heute sehr, auch in der Vernetzung mit anderen Behörden. Wir haben sehr häufig Besuch aus dem In- und Ausland, um bestimmte Lösungen gemeinsam zu reflektieren und die Dinge darzustellen. Über diesen engen Kontakt freue ich mich sehr.
msg: Das 2018 gegründete Netzwerk von Experten für digitale Transformation in der Verwaltung – NExT – wurde vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge initiiert. Waren es die Erfahrungen dieser Krise, die dazu geführt haben?
Richter: Ja, das stimmt. Wir hatten bei dieser Transformation viele Diskussionspunkte auch innerhalb unserer Behörde, die sich einfach besser verargumentieren lassen, wenn man weiß, dass sich andere Behörden ebenfalls in diesem Transformationsprozess befinden. Wir tauschen Erfahrungen aus, und wir versuchen das, was die jeweils anderen Behörden als Best Practice erfahren haben, allen zugänglich zu machen. Aktuell bereiten wir zum Beispiel eine Ausschreibung zum digitalen Posteingang vor, sodass eingehende Post digitalisiertund qualifiziert signiert zu uns kommt. Das ist ja keine Lösung, die wir nur spezifisch im BAMF brauchen, die braucht im Grunde genommen die ganze Bundesverwaltung. Zum anderen arbeiten wir im BAMF heute mit Techniken, wie Cloudcomputing, Blockchain oder anderen neuen Technologien, bei denen es gar nicht sinnvoll ist, sie nur für eine einzelne Behörde zu implementieren.
msg: Wer ist alles bei NExT dabei?
Richter: Insgesamt sind über 30 Bundesbehörden, Landesbehörden und inzwischen auch Kommunalbehörden dabei: Wir haben Vertreter aus dem Auswärtigen Amt und dem Cyber- und Informationsraum der Bundeswehr, vom Statistischen Bundes amt und Vertreter aus dem Land Nordrhein-Westfalen sowie von der Kommunalen Unfallversicherung Bayern dabei. Das sind Personen, die sich als Digitalisierungstreiber verstehen und in ihren Behörden Verantwortung für die digitale Transformation tragen. Also rein behördliche Strukturen, denn wir wollen einen geschützten Raum, in dem wir uns als Behördenvertreter gemeinsam austauschen können.
msg: Die Wirtschaft ist bei NExT nicht involviert?
Richter: Nein. Bei NExT haben wir zweimal im Jahr eine Panelsitzung, zu der nur Behördenvertreter zugelassen sind. Dort besprechen wir, welche Produkte und Ergebnisse wir in den nächsten sechs Monaten bearbeiten wollen. Dann teilen wir die Arbeit auf, und nach sechs Monaten setzen wir uns wieder zusammen, schauen, was daraus geworden ist und ob schon Proof of Concepts oder Piloten durchgeführt werden konnten. Diese Ergebnisse stellen wir allen teilnehmenden Parteien zur Verfügung und besprechen dann, was wir die nächsten sechs Monate machen. Jenseits dieser Panelarbeit haben wir sechs „Werkstätten“ eingerichtet, die wir auch für Wissenschaft und Wirtschaft öffnen. Allerdings nicht nach dem Gießkannenprinzip. Vielmehr schauen wir genau, wer für die aktuelle inhaltliche Diskussion einen Mehrwert bieten kann.
msg: Existieren diese Werkstätten permanent und sind mit Personal und Geldmitteln ausgestattet?
Richter: Wir haben dafür Ende letzten Jahres einen gemeinnützigen Verein gegründet, der die Arbeit in diesem behördenoffenen Netzwerk organisiert. Innerhalb dieses Netzwerks wirken wir mit unseren eigenen Behördenaufgaben mit, an denen wir ohnehin arbeiten und machen die Ergebnisse dann über das Netzwerk zugänglich. Wir haben also gesagt: Schauen wir mal, was wir auf der Werkbank liegen haben, stimmen uns dann mit anderen ab, die das auch brauchen, und setzen es ohne große bürokratische Abstimmung um. Wir sind die Macher. Wir haben die sechs Werkstätten dauerhaft eingerichtet und zwischen den Behörden aufgeteilt. Dort finden im Jahr zusätzlich vier bis fünf Veranstaltungen statt, zum Beispiel zu künstlicher Intelligenz oder zu Data Analytics. Hier bringen wir die Praktiker aus den jeweiligen Behörden zusammen, und wenn das Interesse da ist, dann verabreden sie sich zu einer Community of Practice.
msg: Wie definieren Sie in diesem Zusammenspiel Erfolg?
Richter: Ein Erfolgsindikator ist es, wenn wir es schaffen, den Digitalisierungsgrad in unseren Behörden signifikant zu verändern. Im BAMF haben wir zum Beispiel aktuell einen Digitalisierungsgrad von 84 Prozent bei den Asylverfahren.
msg: Können Sie kurz beschreiben, wie Sie den Digitalisierungsgrad messen?
Richter: Es gibt Prozessabläufe, die definiert und auch beschrieben sind. Wenn Sie auf diese Prozesse die Zeitanteile menschlicher Arbeit und maschineller Arbeit legen, dann können Sie messen, welche Abschnitte digitalisiert sind, wie viel Zeit dadurch eingespart werden kann und was zwingend analog gemacht werden muss. Bei uns ist das zum Beispiel die Anhörung eines Asylbewerbers. Hier ist der unmittelbare Eindruck wichtig, um eine valide Entscheidung treffen zu können. In der öffentlichen Verwaltung geht es natürlich vor allem um Rechtmäßigkeit und Qualität. Trotzdem müssen wir auch Anreize innerhalb von Behörden setzen, damit wir uns möglichst effizient und qualitativ gesichert weiterentwickeln. Das schaffen wir durch solche Messungen und indem wir unser Haushaltsbudget entsprechend steuern. Wir haben innerhalb des BAMF vereinbart, dass – wenn eine Aufgabe durch Digitalisierung effizienter gestaltet werden kann – die Effizienzgewinne aufgeteilt werden. Ein Teil geht dann an personelle Ressourcen im Fachbereich, ein anderer Teil in die IT und ein dritter Teil in die allgemeine Organisation. Das heißt, wir schaffen hier Anreize für alle Beteiligten, bei der Digitalisierung mitzumachen.
Abbildung 2: Jürgen Fritsche und Dr. Markus Richter
msg: Liegt es im Interesse einer Fachabteilung, dass ihre Mitarbeitenden in andere Bereiche gehen?
Richter: Es ist so, dass wir beim Auflegen eines Projekts prognostizieren, welche Hilfestellungen aus diesem Projekt entstehen, wo wir vielleicht Ressourcen sparen können und wo wir künftig mehr Personal brauchen. Davon profitiert dann auch der Fachbereich, da er durch diesen Effizienzgewinn mehr Ressourcen bekommt, die er dann in andere Bereiche einbringen kann. Insofern haben wir da eine höhere Akzeptanz. Sie haben jedoch vollkommen recht: Es ist ein komplettes Umdenken erforderlich. Ich glaube, eine wesentliche Erfahrung aus der Krisensituation 2015, 2016 ist, dass wir immer hinterfragen: Was können wir tun, damit wir bei möglichen künftigen Krisen gut präpariert sind? Das schaffen wir, indem wir Systeme in Behörden implementieren, die Anreize bieten, dass wir uns permanent selbst reflektieren und schauen, wo wir noch einen Schritt weiter nach vorne gehen können.
msg: Das geht auch ein Stück Richtung Qualifizierung, denn es kann ja niemand innerhalb von zwei Monaten eine komplett andere fachliche Tätigkeit ausführen.
Richter: Sie haben vollkommen recht: Qualifizierung ist ein wesentliches Element. Deshalb haben wir ein Qualifizierungszentrum bei uns eingerichtet. Ich würde sagen, eines der modernsten in der Bundesverwaltung überhaupt. Da haben wir im vergangenen Jahr 1.500 Qualifizierungskurse durchgeführt. Das heißt, jeder Mitarbeiter war mindestens dreimal in einer Maßnahme. Da geht es um fachliche Inhalte, aber auch viel um Führung, um agile Transformation, um neue Arbeitsweisen. Wir nehmen zum Beispiel aus verschiedenen Bereichen junge Führungskräfte, die in einem geschützten Bereich und jenseits der normalen Arbeit innovative Dinge ausprobieren können. Das hat nichts mit IT zu tun, durch solche Instrumente wollen wir einen Mentalitätswandel unterstützen.
Abbildung 3: Dr. Markus Richter
msg: Bei NExT geht es also um neue Lösungen, die vorangetrieben werden. Aber Sie haben auch Ansätze entwickelt, wie Verwaltungsarbeit anders organisiert werden kann?
Richter: Ja, wir haben eine eigene Werkstatt, die vom ITDZ Berlin zusammen mit dem Statistischen Bundesamt geleitet wird. Da geht es explizit um die Frage, wie wir neue Arbeitsweisen in Behörden unterstützen können. Hier haben wir ein erstes Whitepaper erstellt und sind aktuell dabei, das weiter auszuarbeiten. Letztendlich kommt es, so ist meine Erfahrung, sehr auf die Persönlichkeiten an, die hier aktiv sind. Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, dass wir Mitarbeitende mit dieser neuen Arbeitsmethode „infizieren“, dass sie in ihren Behörden zu Botschaftern werden und sagen: So will ich arbeiten. Das will ich verändern.
msg: Die Demografie zeigt langsam Wirkung. Das Statistische Bundesamt sagt, dass bis 2030 im öffentlichen Sektor circa 730.000 Mitarbeitende fehlen. Davon gehören ungefähr 400.000 der mittleren Führungsebene an, die mit Themen beschäftigt sind, die für die Modernisierung der öffentlichen Verwaltung, für die Digitalisierung, für Klimaschutzmaßnahmen wichtig sind. Wenn man sich das vor Augen führt, dann bekommt die Automatisierung noch einmal einen anderen Stellenwert. Beschäftigt sich NExT auch mit solchen Fragen?
Richter: Ja. Beim Thema Talentmanagement hat die Bundeswehr die Werkstattleitung. Aus meiner Sicht bedarf es, um diesem demografischen Wandel Rechnung zu tragen, dreier Elemente: Zum einen müssen wir uns unserer Stärken in der öffentlichen Verwaltung bewusster werden. Bei uns geht es darum, dass wir die großen Herausforderungen der Menschheit bearbeiten und besser in den Griff bekommen. Das ist für viele Menschen sehr spannend, denn sie können mit ihrer Arbeit etwas Sinnerfüllendes machen. Diesen Aspekt müssen wir stärker in den Mittelpunkt stellen, und dazu müssen wir auch in der IT neue Technologien nutzen. Gerade bei Absolventen besteht ein hohes Interesse, nicht nur an sozialen Themen zu arbeiten, sondern das auch mit neuesten Techniken zu tun. Wir haben es mit einer sehr IT-affinen Generation zu tun, die auch auf der Fachseite gerne technisch unterstützt arbeiten will. Das ist das zweite Element. Das dritte sind ganz klar die Vernetzung und Durchlässigkeit. Im öffentlichen Bereich haben wir den großen Vorteil, dass wir eine Bandbreite an Themen haben. Wenn wir als BAMF mit anderen Behörden zum Beispiel ein Traineeprogramm anbieten, dann kann eine Person bei uns agil und mit neuen Technologien in einem Projekt arbeiten und dann bei einer völlig anderen Behörde mit neuen Arbeitsweisen und Technologien ein Produkt zu Ende begleiten. Das steigert extrem die Attraktivität.
msg: Automatisierung haben Sie jetzt als Antwort gar nicht aufgeführt, aber die ergibt sich daraus ja.
Richter: Natürlich. Vielleicht andersherum gesagt, ich erlebe es oft, dass darüber diskutiert wird, dass das BAMF 20 Roboter hat, die 24/7 arbeiten. Da kommt schnell die Frage auf, ob und wann die den eigenen Arbeitsplatz bedrohen. Hier müssen wir deutlich machen, dass wir ohne diese Roboter deutlich mehr Personal und Stellen bräuchten, um die Aufgabenlast zu tragen. Unser Prozess in den Behörden ist ja nie statisch. Wir haben immer wieder Peak-Situationen in den verschiedenen Themenbereichen. Darauf können wir ja nicht nur mit Personal reagieren. Wir müssen durch Automatisierung dafür sorgen, Lastspitzen abzufangen, die immer wieder auftreten können und in denen wir gar nicht so schnell Personal finden, schulen und in den Betrieb hineinbringen können. Das gelingt durch die Automatisierung besser. Es ist wichtig zu kommunizieren, dass das eine nicht ohne das andere geht.
msg: Wenn man über KI, Machine Learning oder auch nur abstrakt über Automatisierung spricht, dann wird oft die ethische Frage gestellt. Wie stehen Sie bei NExT dazu?
Richter: Wir haben uns zum Beispiel die KI-Strategie der Bundesregierung vorgenommen und geprüft, was für Behörden darin steht. Es gibt tatsächlich ein Kapitel dazu, das allerdings relativ abstrakt ist. Nun hinterlegen wir das mit konkreten Maßnahmen und erprobter künstlicher Intelligenz – so, wie sie beim BAMF schon produktiv in Betrieb ist. In diesem Kontext spielt die ethische Frage eine ganz wichtige Rolle. Ich glaube, wir müssen zwei Dinge berücksichtigen: Zum einen müssen wir darauf achten, dass künstliche Intelligenz nicht in eine falsche Richtung lernt, sodass durch sie Diskriminierungen stattfinden. Zum anderen ist da die Frage, wer für die Entscheidung oder das Ergebnis der KI die Verantwortung trägt.
Ich will zu beiden Punkten kurz etwas sagen. Es ist essenziell, dass das Ergebnis dieser Blackbox KI von einem Menschen kontrolliert wird. Zum einen durch eine echte Clearingstelle, die das überwacht, zum anderen aber auch durch Rollen, die ich im Prozess verteile. Das Zweite ist das Thema der Verantwortung. Letztendlich trägt derjenige die Verantwortung für die Ergebnisse, der für die Entscheidungen zur Implementierung der künstlichen Intelligenz verantwortlich zeichnet. Wenn es um Behörden geht, letztendlich die Behördenleitung. Die Technik ist die Basis, aber die Menschen treffen auf dieser Basis Entscheidungen und überwachen das auch. Ich bin sehr dafür, dass wir uns in der öffentlichen Verwaltung immer fragen, welchen Mehrwert die neue Technologie leisten kann, um Probleme zu beheben.
msg: Die Verwaltungen in den 16 Bundesländern müssen sich alle denselben Herausforderungen stellen – Demografie, Automatisierung, Cybersicherheit und vieles mehr. Dafür benötigen sie qualifiziertes Personal. Wenn nun alle aus demselben Pool fischen, dann sorgt der Föderalismus schnell für Konkurrenz. Wie stehen Sie dazu?
Richter: Hier möchte ich noch einmal aus dem Netzwerk NExT heraus antworten. Im Föderalismus ist Kooperation essenziell. Das gilt auch für das Thema Talentmanagement. Es bringt nichts, wenn wir uns als Behörden gegenseitig die besten Köpfe abwerben. Vielmehr müssen wir Formen der Zusammenarbeit finden, indem wir Personen auch mal wechseln lassen; insbesondere dann, wenn sie wechseln möchten. Oder wenn wir an Standorten, an denen sehr viele Behörden sind, Programme auflegen, die einen Wechsel strukturiert ermöglichen. Wir als BAMF richten zum Beispiel in Berlin aktuell einen Digital Hub zur behördenübergreifenden Entwicklungsarbeit ein. Wir haben in unseren Projekten oft Schnittstellen zu anderen Behörden und stellen dann fest, dass wir vieles am besten gleich von Anfang an zusammen machen sollten. Das, was dabei dann entsteht, kann man wiederum mehreren Behörden zur Verfügung stellen. Deshalb würde ich mir wünschen, dass wir solche Beispiele stärker verfolgen, und das nicht nur auf Bundesebene, sondern auch im Föderalismus.
Abbildung 4: Verabschiedung zwischen Dr. Markus Richter und Jürgen Fritsche
msg: Sie setzen auf Kooperation, auf behördenübergreifende Zusammenarbeit. Entwickeln Sie bei NExT auch einen Werkzeugkasten dafür?
Richter: Ja, wir entwickeln aktuell einen Werkzeugkasten für die digitale Transformation, und ein Element dabei ist das Thema Kooperation. Wir haben ein erstes Projekt in der Planung, bei dem es um georeferenzierte Daten geht. Das ist keine neue Technik, keine Revolution, doch es ist etwas, das viele Behörden brauchen. Im BAMF sind wir zum Beispiel für Integrationskurse zuständig, und wir haben schon immer auch geobasierte Daten zur Verfügung gestellt, damit Personen, die einen Sprachkurs besuchen wollen, sehen können, wo für sie der nächste geeignete Kurs anfängt. Das sind Techniken, die wir jetzt fortentwickeln wollen. Auf dieser Reise sind wir nicht alleine: Es gibt mehrere Behörden, die so etwas auch brauchen, wenn auch für andere Anwendungsfälle. Dann kooperieren wir, um das Thema zu lösen, und es ist sehr spannend zu sehen, wie Mitarbeitende aus verschiedenen Behörden in ein agiles Team hineinfinden. So findet eine Vernetzung zwischen Menschen statt, und genau die brauchen wir. Wir haben übrigens im BAMF auch die ersten zwei agilen Coaches überhaupt in der Bundesverwaltung. Die beiden sind permanent gefragt, um solche Prozesse zu begleiten. Es ist schön, dass wir uns da auf den Weg machen, doch wir müssen ihn weiter ausbauen. Er muss zur Selbstverständlichkeit in jeder Behörde werden.
msg: Es geht um die Ertüchtigung der Verwaltung. Was sehen Sie da für Handlungsnotwendigkeiten oder Möglichkeiten in der Ausbildung oder in der Weiterbildung?
Richter: Es gibt aktuell Kooperationen mit Universitäten, die Digitalisierungsinhalte mit Blick auf die öffentliche Verwaltung in den Vordergrund stellen. Auch die Hochschule des Bundes stellt neue Weiterbildungsstudiengänge zur Verfügung, zum Beispiel für den Laufbahnaufstieg, die ebenfalls die digitale Transformation adressieren. Es entsteht im Augenblick einiges, aber es ist klar, dass wir noch Nachholbedarf haben. Ehrlich gesagt, sehe ich Digitalisierung nicht in erster Linie als eine IT-Aufgabe, sondern als eine Aufgabe der Fachseite. Das heißt, wir müssen diese Kompetenz in die Fachseiten hineinbekommen, dort sitzen die richtigen Treiber. Wir können das nicht an die Techniker oder Entwickler wegdelegieren. Deshalb bin ich der Auffassung, dass wir das Thema Digitalisierung im juristischen Bereich oder auch in anderen Ausbildungsgängen ganz selbstverständlich dabeihaben müssen. In fünf oder zehn Jahren wird die Digitalisierung dazu führen, dass wir hochtechnisch unterstützt sein werden. Bei Assistenzsystemen, die es für Entscheidungen, Gerichtsurteile oder Ähnliches heute schon zum Teil gibt, können wir die Entwicklung nicht einfach anderen überlassen, da muss ich mich als Fachexperte einbringen und die Richtung vorgeben.
msg: In der öffentlichen Verwaltung stehen tiefgreifende Veränderungen an. Sie haben dafür viele Ideen aus NExT und aus Ihrer praktischen Erfahrung im BAMF entwickelt. Wo gibt es Mauern, gegen die Sie laufen?
Richter: Das sind ja alles Themen, für die wir eine Sensibilität in der Gesellschaft schaffen müssen. Sie betreffen natürlich das Bildungssystem genauso wie andere Bereiche. Aus NExT heraus bilden wir ein Sounding Board, in das wir Digitalisierungsbotschafter aufnehmen. Das werden zu Beginn etwa 20 Personen aus Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft sein, die dann zum Beispiel neue digitale Angebote in Schulen oder Verwaltungen medial begleiten. Ich bin froh, dass Minister Altmaier die Schirmherrschaft für dieses Sounding Board übernimmt, denn es ist mir wichtig, dass wir hier die Aufmerksamkeit fördern. Letztendlich ist es mit den Schulen nichts anderes. Wir müssen bei den Jüngsten anfangen, und nach meinem Dafürhalten geht es nicht darum, dass alle Softwareentwicklung lernen müssen. Es geht darum, zu verstehen, dass das, was hinter der Technik stattfindet, bewusst programmiert worden ist. Und dass man es modifizieren kann und man es auch modifizieren muss. Es geht eher um das vernetzte Denken, um den Teamgedanken. Das fängt natürlich bei den Lehrkräften an. Wenn sie zu Innovationen bereit sind und nicht nur das Tablet zur Verfügung stellen, sondern auch wirklich die Kompetenz dafür entwickeln, dann wäre uns schon sehr geholfen.
msg: Was sind die nächsten wichtigen Meilensteine aus Ihrer Sicht für das Bundesamt für Migration und auch für NExT?
Richter: Für das Bundesamt für Migration sind es ganz klar drei Punkte. Der erste ist, dass wir die Qualität, Sicherheit und Quantität unserer Arbeit permanent weiterentwickeln wollen. Wir haben heute bei uns schon eines der führenden Qualitätssicherungssysteme implementiert und sind dazu mit den führenden Institutionen im Austausch. Aber kein System ist so gut, dass es nicht noch besser werden kann. Insofern ist das ein wichtiges Element in der inhaltlichen Arbeit. Der zweite ist, dass wir uns als das Kompetenzzentrum im Bereich Asyl, Migration und Integration weiterentwickeln wollen, und zwar auch in der öffentlichen Wahrnehmung, die teilweise von dem abweicht, was wir in der Realität tatsächlich machen. Der dritte ist, dass wir uns als attraktiver Arbeitgeber positionieren möchten. Wir waren 2018 als fünftattraktivster Arbeitgeber im Ranking in Deutschland zu finden. Ich glaube, da wurden besonders die Einstellungszahlen gemessen. Jetzt geht es darum, diesem Anspruch Rechnung zu tragen, indem wir Angebote zur Verfügung stellen. Da gehört natürlich die Digitalisierung dazu und dass wir diesen Trend weiterentwickeln. Wir sind mit einem Durchschnittsalter von 42 Jahren die jüngste Bundesverwaltungsbehörde und haben ganz andere Möglichkeiten, als man das – von außen betrachtet – oft denkt. Für NExT und damit letztendlich für die Verwaltung insgesamt haben wir einen großen Kraftakt vor uns.
Es sind richtige Gesetze auf den Weg gebracht. Es gibt das Online-Zugangsgesetz, es sind Projekte aufgelegt. Doch jetzt muss uns in den Behörden die digitale Transformation gelingen. Das heißt den Digitalisierungsgrad weiterzuentwickeln, und zwar nicht als Selbstzweck, sondern damit wir eine moderne, zukunftsgesicherte, agile Behördenkultur bekommen, die uns krisenfest macht. Daran müssen wir permanent arbeiten, und das muss uns jetzt gelingen. Sonst laufen wir Gefahr, Teile unseres Geschäftsbereichs zu verlieren. Der Großteil der Menschen ist bereits digital unterwegs und hat einen Anspruch darauf, dass Digitalisierung sicher und qualitätsgesichert stattfindet. Dafür stehen wir Behörden in Deutschland in besonderer Weise.
msg: Eine ziemlich große Aufgabe, die Sie beschreiben. Bei einem Unternehmen mit 4,7 Millionen Beschäftigten ist einiges zu tun. Vielen Dank für dieses sehr interessante Interview.
Richter: Ich danke auch Ihnen ganz herzlich für die Gelegenheit.