Ob Maschinen, Werkzeuge, Autos oder Industrieanlagen – Produkte müssen heute individuell und passgenau auf spezifische Kundenbedürfnisse zugeschnitten werden. Das stellt Fertigungsunternehmen vor neue Herausforderungen, bietet aber auch zusätzliche Chancen.
Michael Neuhaus, Geschäftsführer des msg-Gruppenunternehmens msg treorbis GmbH und etablierter Experte im Bereich Variantenkonfiguration, erklärt, worauf es für produzierende Unternehmen in Zukunft beim Thema Varianten ankommen wird und welche neuen Herausforderungen sich ihnen stellen.
Die Herstellung kundenspezifischer Varianten gehört in vielen Branchen zum Alltag. Werkzeuge, die für den Maschinenbau gefertigt werden, liegen häufig in 50 und mehr Ausführungen vor, die Automobilindustrie liefert zahlreiche Varianten und Ausstattungspakete, mit denen sich das Fahrzeug an die eigenen Wünsche anpassen lässt und auch medizinische Geräte, elektronische Anlagen und Hightech-Appliances werden in der Regel individuell und passgenau für einen Kunden angefertigt.
Die herkömmliche Art der Variantenfertigung hat jedoch einige gravierende Nachteile. Die angebotenen Produktversionen werden häufig aus standardisierten Komponenten und Modulen zusammengesetzt, was der Variabilität enge Grenzen setzt. Trotz dieser Modularisierung ist meist ein erhebliches Maß an zusätzlicher Planung, Konfiguration und Konstruktion notwendig, um das Produkt individuell anzupassen und zu fertigen. Das macht die Herstellung langsam und teuer. Oft muss der Kunde wochen- oder monatelang auf eine Lieferung warten und im Vergleich zu standardisierten Massenprodukten erhebliche Mehrkosten tragen.
Eine Variantenkonfiguration mit Hilfe von 3D-Visualisierung könnte dagegen das Produkt in Abhängigkeit von seiner Umgebung oder im Zusammenspiel mit anderen Produkten sowie in einer Prozesskette bereits im Verkaufs- und Planungsprozess besser darstellen. Somit können Planungsfehler und Reklamationen vermieden werden, denn der Kunde sieht seine gewünschte Maschine bereits im Verkaufsprozess.
Losgröße 1 – die Variantenfertigung der Zukunft
Die Digitalisierung macht es möglich, Varianten schneller, flexibler und günstiger zu produzieren. Folgende Merkmale werden die Variantenfertigung der Zukunft auszeichnen:
Wirtschaftlichkeit. „Losgröße 1 zu Kosten einer Serienfertigung“ – lautet das erklärte Ziel vieler Hersteller. Individuelle Produkte sollen dank intelligenter moderner Fertigungsverfahren zu Preisen einer Massenproduktion hergestellt und verkauft werden können. Laut dem Deutschen Industrie 4.0 Index 2018, einer Studie der Staufen AG und der Staufen Digital Neonex GmbH, ist dies in 16 Prozent der befragten Unternehmen bereits Realität, weitere 23 Prozent erwarten, in den kommenden zwei bis fünf Jahren dieses Ziel erreichen zu können.
Schnelligkeit. Neue Varianten und Modelle müssen heute in Tagen oder wenigen Wochen zur Verfügung stehen. In herkömmlichen Prozessen dauert die Entwicklung zur Marktreife dagegen meist viele Monate oder Jahre.
Variabilität. Mit modernen Fertigungsverfahren wie dem 3D-Druck bricht die Variantenfertigung aus dem Korsett der Module und Komponenten aus. Produkte lassen sich in einer viel größeren Zahl von Ausführungen ordern oder sogar auf Basis eines Grundmodells völlig individuell designen.
Visualisierung. Moderne Variantenfertiger arbeiten nicht mehr mit Katalogen, Stoffmustern, Aufrisszeichnungen und Lageplänen, sondern setzen auf computergestützte Visualisierungsmöglichkeiten wie Augmented und Virtual Reality. Die virtuelle Abnahme einer neuen Maschine für die Produktion ermöglicht es beispielsweise, Probleme zu erkennen und Arbeitsabläufe zu optimieren, bevor Herstellung und Einbau unverrückbare Fakten schaffen.
Die neuen Herausforderungen in der Variantenfertigung
Für Anbieter und Zulieferer, aber auch für die Kunden bringen diese Entwicklungen viele Vorteile. Die Variantenfertigung wird nicht nur schneller und kostengünstiger, sie ermöglicht es auch, Fertigungsprozesse zu optimieren, Beschaffung und Lagerhaltung besser zu planen und Ressourcen zu sparen. Die digital gesteuerte und visualisierte Produktion ist dabei nur der erste Schritt hin zu einem modernen Lifecycle-Management von Produkten und Maschinen. So lässt sich beispielsweise aus den Konstruktions- und Herstellungsdaten ein digitaler Zwilling des Werkstücks erstellen, an dem sämtliche Installations-, Wartungs- und Reparaturarbeiten computergestützt geplant und nachvollzogen werden können.
Mit dieser durchgehenden Digitalisierung sind aber auch neue Herausforderungen verbunden. Zunächst einmal gilt es, die riesigen Datenmengen zu beherrschen, die beim Design, der Fertigung, aber auch beim Gebrauch der Produkte anfallen. Viele Maschinen, Werkzeuge und Anlagen sind heute mit Sensoren ausgestattet, die über das Internet of Things (IoT) Informationen über Auslastung, Betriebszustand und andere Kennzahlen liefern. Wartungsintervalle können so besser am tatsächlichen Bedarf ausgerichtet und Schäden erkannt werden, bevor es überhaupt zu Ausfällen kommt. Gerade im Qualitätsmanagement spielt die Datenanalyse bereits eine große Rolle. Laut dem Industrie 4.0 Index nutzen bereits 69 Prozent der Befragten Big-Data-Auswertungen für diese Zwecke.
Die Variantenvielfalt erhöht zudem die Komplexität in der Prozesslogik erheblich. Eine Vielzahl von Konfigurationsregeln und Stücklisten mit zahlreichen Abhängigkeiten muss verstanden, visualisiert und effizient verwaltet werden können. Die Verknüpfung unterschiedlichster Systeme erfordert ein ausgefeiltes Schnittstellenmanagement, durch die Nutzung von Cloud-Ressourcen entstehen hybride IT-Landschaften, deren Integration wiederum den Managementaufwand erhöht. Produktionsstandorte in verschiedenen Ländern erschweren die Koordination ebenso wie die nahtlose Integration von Zulieferern und Vertriebskanälen.
In drei Schritten zur erfolgreichen Variantenfertigung
Um diese Herausforderungen zu meistern, sollten Sie folgende Punkte beachten:
Betrachten Sie die gesamte Wertschöpfungskette. Berücksichtigen Sie bei der strategischen Planung Ihrer Variantenfertigung nicht nur die Produktionsprozesse, sondern auch die möglichen Vertriebskanäle. Nutzen Sie Ihre Daten, analysieren Sie die Ist-Situation und definieren Sie, welche Verbesserungen den größten Effekt auf das Gesamtsystem haben.
Denken Sie aus Sicht des Kunden. Auch wenn es banal scheint, so wird auch heute noch viel zu oft gegen diese Regel verstoßen. Unternehmen sind zu sehr in ihre eigenen Standards verliebt und kreieren Produkte, ohne den wirklichen Bedarf des Anwenders zu kennen. Begehen Sie diesen Fehler nicht. Arbeiten Sie interdisziplinär und verwenden Sie Methoden wie Design Thinking, um Kunden und Vertrieb möglichst frühzeitig in die Entwicklung mit einzubeziehen. Erstellen Sie außerdem möglichst früh ein sogenanntes Minimum Viable Product (MVP) mit den wesentlichen Funktionen und testen Sie dessen Akzeptanz.
Automatisieren Sie. Je komplexer und variantenreicher Ihre Fertigung wird, desto größer ist die Gefahr von Fehlern. Vereinfachen Sie daher so viele Abläufe wie möglich, indem Sie regelbasierte Automatismen einführen.
Fazit und Ausblick
Der Trend zur Serienfertigung in Losgröße 1 bringt einige Herausforderungen mit sich. Unternehmen müssen nicht nur ihre Produktionsprozesse neu denken, sondern sich auch mit IT-Themen wie Big Data, Künstliche Intelligenz (KI), Cloud oder IoT auseinandersetzen. Wem das gelingt, der kann nicht nur seine Variantenfertigung auf eine völlig neue Ebene der Variabilität, Wirtschaftlichkeit und Lieferschnelligkeit heben, sondern sich auch neue Geschäftsmodelle erschließen.
Veranstaltungshinweis:
Am 26. und 27. Juni 2019 findet zum 12. Mal die jährliche Konferenz für Variantenfertiger bei SAP in St. Leon-Rot statt. Es ist die größte deutschsprachige SAP-Veranstaltung zum Thema Variantenkonfiguration und ist mit über 20 Vorträgen das Top-Event in diesem Bereich.